Freiheit und Gesellschaft


Die Menschheit strebt im Anfange der Kulturzustände nach Entstehung sozialer Verbände; dem Interesse dieser Verbände wird zunächst das Interesse des Individuums geopfert.

Die weitere Entwicklung führt zur Befreiung des Individuums von dem Interesse der Verbände und zur freien Entfaltung der Bedürfnisse und Kräfte des Einzelnen.

Nun handelt es sich darum, aus dieser geschichtlichen Tatsache die Folgerungen zu ziehen. Welche Staats- und Gesellschaftsform kann die allein erstrebenswerte sein, wenn alle soziale Entwicklung auf einen Individualisierungsprozeß hinausläuft? Die Antwort kann allzu schwierig nicht sein.

Der Staat und die Gesellschaft, die sich als Selbstzweck ansehen, müssen die Herrschaft über das Individuum anstreben, gleichgültig wie diese Herrschaft ausgeübt wird, ob auf absolutistische, konstitutionelle oder republikanische Weise.

Sieht sich der Staat nicht mehr als Selbstzweck an, sondern als Mittel, so wird er sein Herrschaftsprinzip auch nicht mehr betonen. Er wird sich so einrichten, dass der Einzelne in größtmöglicher Weise zur Geltung kommt.

Rudolf Steiner (GA 31, S. 255 f.)

Gerade unsere geisteswissenschaftliche Bewegung sollte die Menschen zu freiem Urteilen aufrufen, sollte hinwegfegen alles, was bloß auf äußeren Autoritätsglauben hin herrscht. Solange in der Gesellschaft noch das Gefühl herrscht, es käme auf den Mund an, durch den gesprochen wird, solange ist noch nicht unser Ideal erreicht. Wir sollen nur hören auf das, was dieser Mund spricht, weil die Dinge uns einleuchten, wenn wir mit Wahrheitssinn und unbefangener Logik ihm zuhören. Es ist unsere Bewegung im höchsten Maße geeignet, das freie Urteil des Menschen keimen zu lassen und zu entwickeln; aber es geht durch unsere Zeit ein starker Zug, den man nennen kann: Bequemlichkeit in bezug auf den Glauben. Durch die Bequemlichkeit des Glaubens werden der geisteswissenschaftlichen Bewegung große Hindernisse geschaffen. Dadurch, daß man etwas glaubt, weil es dieser oder jener gesagt hat, wird das freie Urteilen verzögert, das freie menschliche Seelenleben, die Verselbständigung auch in bezug auf die Verstandesseele. Es ist so bequem, nicht denken zu brauchen, und irgendeine Wahrheit nur anzunehmen, weil sie dieser oder jener gesagt hat; es ist viel bequemer, der Person glauben zu können, als zu prüfen, was die Person sagt.

Rudolf Steiner (GA 127, S. 51f)