Eine Handlung aber, die wir nicht um ihrer selbst willen vollbringen, ist eine unfreie. Der Egoismus handelt unfrei.
Eine Handlung um ihrer selbst willen ausführen heißt aus Liebe handeln. Nur derjenige, den die Liebe zum Tun, die Hingabe an die Objektivität leitet, handelt wahrhaft frei. Wer dieser selbstlosen Hingabe nicht fähig ist, wird seine Tätigkeit nie als eine freie ansehen können.
Man behandelt die allgemeine Ethik ja vielfach so, als ob sie eine Summe von Normen sei, nach denen das menschliche Handeln sich zu richten habe. Man stellt von diesem Gesichtspunkte aus der Ethik der Naturwissenschaft und überhaupt der Wissenschaft vom Seienden gegenüber. Während nämlich die letztere uns die Gesetze von dem, was besteht, was ist, vermitteln soll, hätte uns die Ethik jene vom Seinsollenden zu lehren.
Die Ethik soll ein Kodex von allen Idealen des Menschen sein, eine ausführliche Antwort auf die Frage: Was ist gut? Eine solche Wissenschaft ist aber unmöglich. Es kann keine allgemeine Antwort auf diese Frage geben. Das ethische Handeln ist ja ein Produkt dessen, was sich im Individuum geltend macht; es ist immer im einzelnen Fall gegeben, nie im allgemeinen.
Es gibt keine allgemeinen Gesetze darüber, was man tun soll und was nicht. Man sehe nur ja nicht die einzelnen Rechtssatzungen verschiedener Völker als solche an. Sie sind auch nichts weiter als der Ausfluß individueller Intentionen.
Was diese oder jene Persönlichkeit als sittliches Motiv empfunden hat, hat sich einem ganzen Volke mitgeteilt, ist zum »Recht dieses Volkes» geworden. Ein allgemeines Naturrecht, das für alle Menschen und alle Zeiten gelte, ist ein Unding.
Rechtsanschauungen und Sittlichkeitsbegriffe kommen und gehen mit den Völkern, ja sogar mit den Individuen. Man soll nicht fragen: Was soll der Mensch tun? Sondern: Was ist das, was er tut, seinem inneren Wesen nach? Und damit fällt jene Scheidewand, welche alle Wissenschaft in zwei Sphären trennt: in eine Lehre vom Seienden und eine vom Seinsollenden. Die Ethik ist ebenso wie alle anderen Wissenschaften eine Lehre vom Seienden.
In dieser Hinsicht geht der einheitliche Zug durch alle Wissenschaften, dass sie von einem Gegebenen ausgehen und zu dessen Bedingungen fortschreiten. Vom menschlichen Handeln selbst aber kann es keine Wissenschaft geben; denn das ist unbedingt, produktiv, schöpferisch.
Rudolf Steiner (GA1, 5. Ethische und historische Wissenschaften, S. 201f, 205f.)